Der Elefant im Untersuchungszimmer

Screenshoot Website ZDoggMD_com

Aus Doc wird Dogg

Der Internist Zubin Damania  hat sich vom angepassten Arzt mit Standford-Hintergrund zum Stand-up Comedian mit Gangsta-Attitude verwandelt: seit 2010 rappt er als ZDoggMD über Gesundheitsthemen. Sein Motto: „Slightly funnier than placebo„.

Seine neuste Nummer heißt „EHR State of Mind“ und ist eine Parodie auf  „Empire State of Mind“ von Jay-Z feat. Alicia Keys. Seine Version stellt eine harsche Kritik an Electronic Health Records (EHR) aus der Arzt-Perspektive dar.

Ein Artikel auf  Healthcare IT News fasst es so zusammen: „ZDoggMD may not win a Grammy, but it likely strikes a chord with clinicians frustrated by the inefficiencies of their EHRs“. Der Song-Text verarbeitet (in teilweise überzeichneter Weise) die Hauptprobleme von EHRs ab. Er bedient sich dabei klar einem „Ärzte-Slang“, der für Nicht-Mediziner nur bedingt verständlich ist.“30 clicks for a Ambien“ prangert Usability-Probleme in Form von langen Klickfaden zur Verschreibung eines Standard-Schlafmittels[=Ambien] an, „Vaseline conflicts with Doxy?“ verballhornt Popups mit nicht nachvollziehbaren Wechselwirkungen zwischen verordneten Medikamenten [Doxy=Doxycyclin=Breitbandantibiotikum].  Hinter dem Wortspiel „Meaningless abuse“ steckt eine Persiflage  auf das zunehmend in Kritik geratene Meaningful Use Programm: es bietet finanzielle Anreize für Kliniken & Praxen, die EHRs einführen bzw. straft jene ab, die dies nicht tun. Schlussendlich wird im Refrain der EHR als „glorifizierte Abrechnungsplattform mit ein ein paar Patientenfunktionen“ entlarvt(„just a glorified billing platform, with some patient stuff tacked on“).

Electronic Health Records – Eine Hass-Liebe

Auf seiner Webseite fasst er seine „Love-hate relationship with Electronic Health Records“ folgendermaßen zusammen: „ Simply put, the Tower of Babel of existing EHRs may not ever talk to one another, but they do share one thing: they come between us and our patients. Staring at a screen to click boxes and satisfy quality measures while figuring out the seventeenth digit for an ICD-10 code—this nonsense robs us of precious time and attention that should be spent on and with patients. I would never advocate going back to paper. Ever. But we need to demand technology that binds us closer to those we care for, technology that lets doctors be doctors.“

David gegen Goliath. Der kleine Doc Quixote gegen windmühlenartige „WoWs“ [=workstations on wheels], gegen den „Elephant in the examination room“ – den EHR.

Auf Healthcare IT News berichtet jetzt in einem weiteren Artikel eine Gynäkologin sehr eindringlich über ihre Erfahrungen mit EHRs:“As an OB/GYN, women strip down naked in front of me and share their most intimate details. Yet a computer demanding data entry leaves very little room for intimacy in the exam room.“ Links neben dem Artikel: auf den ersten Blick deplaziert, der Werbebanner eines EHR-Herstellers.

Neben dem Erfahrungsbericht einer Gynäkologin prangert ein Werbebanner für ein EHR. - Deplaziert, oder lanciert?!

Neben dem kritischen Erfahrungsbericht einer Gynäkologin zu EHRs prangert ein Werbebanner für einen EHR. Deplatziert, oder ..lanciert?!

Die Aktion „Let Doctors Be Doctors“

Am Ende des Videos ruft ZDoggMD zum mitmachen auf: man solle doch seine eigene Story erzählen. Dafür gäbe es die Webseite LetDoctorsBeDoctors.com und den  Twitter-Hashtag #LetDoctorsBeDoctors. Die Webseite LetDoctorsBeDoctors.com ist wie folgt aufgebaut: Oben ganz groß der schillernde Protagonist ZDoggMD, dann eine lange Reihe von Kommentaren, die Kollegen bereits hinterlassen haben. Darunter eine Eingabemaske, über die jeder seine eigene Story zum Besten geben kann. Auch wir fernab von Amerika können uns beteiligen: unter „State“ kann „Outside of USA“ ausgewählt werden.

Does your EHR get in your way.

Steht Ihnen ihr IT-System mal wieder im Weg? Hier können Sie ihren Frust raus lassen. [Screenshot Webseite letdoctorsbedoctors.com vom 8.Nov.15]

Die Seite schließt, ganz unten mit einem „Werbe-Block“. Diese Aktion hat nämlich einen Sponsor: athenahealth.
athenahealth ist ein Anbieter von EHR-Systemen. Ein „Elefant“ als Sponsor hinter der Aktion? Nun, man sieht sich nicht als Teil des Problems, sondern hat auch gleich die Lösung parat: das EHR-Produkt aus dem eigenen Hause.

Bei athenahealth ist man sich sicher, das EHR-Dilemma schon gelöst zu haben. Mit dem eigenen Produkt. [Screenshot Webseite letdoctorsbedoctors.com vom 8.Nov.15]

Bei athenahealth ist man sich sicher, das EHR-Dilemma schon gelöst zu haben. Mit dem eigenen Produkt. [Screenshot Webseite letdoctorsbedoctors.com vom 8.Nov.15]

Wer mehr über diesen EHR erfahren möchte, der „Ärzte wieder Ärzte sein lässt“,  kann sich auf die Webseite von athenahealth weiterleiten lassen. Man kommt dann nicht etwa auf die allgemeine Startseite oder eine Produkt-Seite an, sondern findet sich auf einer eigens für diese Kampagne eingerichten Landingpage [http://landing.athenahealth.com/letdoctorsbedoctors] mit entsprechender Zielgruppenansprache wieder. Ein Indiz dafür, dass es sich bei „Let doctors be doctors“ um eine ausführlich geplante und durchdachte Marketing-Kampagne handelt.
Nebenbei bemerkt: Das Werbebanner neben dem Artikel der Gynäkologin ist übrigens „zufälligerweise“ auch von athenahealth.

Käufliche Rapper und Produktivitätsverlust durch Digitalisierung

Die „Let doctors be doctors“- Webseite und das ZDoggMD-Video sind also Teil einer viralen Marketingkampagne von athenahealth, der Gangsta-Rapper aus dem Standford-Ghetto ZDoggMD ist demnach vermutlich gekauft. ZDoggMD rechtfertigt dies im Abspann des Videos so: „Big ups to athenahealth for being the only EHR vendor brave enough to admit that EHRs suck„.
Jonathan Bush, Der CEO von athenahealth erläutert die Hintergründe zu der Kampagne  ausführlich in einem Artikel auf U.S. News. Er spricht Klartext und nimmt dabei EHRs kräftig in die Mangel: „Many [doctors] were initially enthusiastic at the thought of automating their practices, expecting the same kind of usability and productivity they enjoyed with, say, the software they use to do their taxes. […] The reality is that the more „digital“ physicians go, and the longer they use software, the less satisfied they become.“ Jonathans Schlussfolgerung sind harte Worte: „That’s the kicker: Health care is the only industry that has managed to lose productivity while going digital.“

Im Unternehmensblog „Health Leadership Forum“ äußert sich  Ed Park, COO von athenahealth, zur Kampagne. Anhand einer (mäßig authentischen) Storyline mit „persönlichen Erlebnissen, die ihn schwer bewegt haben“ geht auch er auf Schwächen und Fehlentwicklungen von EHRs ein. Dann versucht er, die eigenen Produkte aus der Generalkritik herauszulösen: „Ten years ago, when athenahealth began building our EHR service, we started off with the intent of creating the world’s first truly usable EHR.“  Spontan musste ich an die Geschirrspülmittel-Werbung von Palmolive aus den 80-igern denken. Dort wurde versucht, sich nicht als Geschirrspülmittel, sondern etwas Überlegenes – nämlich Palmolive – in die Köpfe der Konsumenten einzubrennen.

Tilly: „Sie haben sich gerade eingeloggt.“
Ärztin:“ In einen EHR?“
Tilly: “ Nein, in athenahealth“.

Episch scheitern

Im Video „EHR State of mind“ werden 2 Produktnamen genannt: Epic und Epocrates.  Epic ist der U.S.-Marktführer, eigentlich eines der „besseren“, wenn nicht sogar das beste System – zumindest in der „Elefantenrunde“ an altherwürdigen EHRs. ZDoggMD straft es hingegen schwer ab und bezeichnet es als „Epic fail“ – also quasi als „episch gescheitert“.
Epocrates wird hingegen als positives Beispiel angeführt. Bei Epocrates handelt es sich um Spezialanbieter von Medizinische Apps aus Kalifornien. Ihre mHealth-Produkte (vornehmlich Clinical Decision Support Systeme, aber auch EHRs) erfreuen sich in der Ärzteschaft großer Beliebtheit. Bis 2013 waren sie eigenständig, dann wurden sie gekauft. Von wem? athenahealth. Wieder wird das „Guter EHR – Schlechter EHR“-Schema bedient. Epic als Leittier aus der überalterten Elefantenherde, Epocrates als agile App aus der Cloud.
Auch Steve Jobs hat Epocrates in Vorträgen positiv erwähnt. Bevor Epocrates gekauft wurde, wohlgemerkt. Die hohe Popularität von Epocrates war auch einer von athenahealth´s Gründen für die Akquisition. Im Prinzip hoffte man, dass sich die Popularität von  Epocrates auf athenahealth übertragen würde und Epocrates´ Kompetenz bei mobilen Technologien auch die ( damals scheinbar noch „elefantischen“) athenahealth-Produkte beflügeln könnte. So jedenfalls brachte es Jonathan Bush in einem TV-Interview von 2013 rüber:

Noch mehr gut gemachte Videos

Während im Video von ZDoggMD ein Zusammenhang mit athenahealth nicht offensichtlich erkennbar ist (kein Logo oder Nennung als Sponsor), sind am selben Tag  eine Serie von 4 „offiziellen“ athenahealth-Werbespots auf Youtube erschienen. Sie sind durchweg originell gemacht und aufwendig produziert, hier zwei Beispiele:

Fazit

Es hätte so schön sein können. ZDoggMD´s Video wäre genial, wenn es denn nun wirklich von ihm wäre. Liest man die Kommentare unter dem Video auf Youtube, oder die Reaktionen auf Twitter, findet sich breite Zustimmung. Man hat tatsächlich den Nerv getroffen. Die „Mitmachaktion“ im Rahmen der „Let doctors be doctors“ Initiative ist ebenso auf den ersten Blick eine nette Idee. Wird einem nach genauerer Betrachtung die treibende Rolle von athenahealth hinter der ganzen Aktion ersichtlich, ist der Lack schnell ab. Die „Es gibt ein großes Problem, aber keine Sorge, wir haben die Lösung“-Attitüde ist etwas platt und strotzt zudem von übermäßigem Selbstbewusstsein.

Cloud-basierte Lösungen und der Einsatz von Web-basierten/ mobilen Technologien bieten eine Reihe von Vorteilen, die Altsysteme völlig zu Recht das Fürchten lehren. Es gibt aber eine Reihe von Problemzonen von EHRs, die unabhängig von diesen Technologien sind und durch sie nicht adressiert werden können. Dort hat athenahealth sicherlich auch noch seine Hausaufgaben zu machen.