Mobile Health auf dem Prüfstand

Die U.S.-amerikanische Federal Drug Administration (FDA) ist, auch wenn es der Name nicht vermuten lässt, neben der Zulassung von Medikamenten ebenfalls für Medical devices (Medizinprodukte, also z.B. technische Gerätschaften wie Infusionspumpen oder medizinische Software) zuständig. Da mobile Endgeräte (Smartphones, Tablets etc.) und Apps immer mehr in diesen Bereich eindringen (Schlagwort Mobile Health), hat die Behörde nun eine Handlungsempfehlungen herausgegeben, wann solche Anwendungen als Medical devices anzusehen sind (und damit zulassungspflichtig) und wann nicht.  Die finale Version dieser Mobile Medical Application Guidance wurde am 25. September 2013 veröffentlicht.

Sie richtet sich einerseits an die Mitarbeiter der Behörde als Bewertungsgrundlage, andererseits an Entwickler und Anbieter von medizinischen Apps, damit sie einschätzen können, ob ihre Produkte eine Zulassung bedürfen.

Die FDA argumentiert, dass wenn sich Smartphone und Co. in diesen sensiblen Bereich vorwagen, sie sich auch den selben strengen Prüfungen unterziehen müssen. Denn wenn Hard- oder Software nicht einwandfrei funktionieren, könnte dies Folgen für die Gesundheit des Nutzers haben.

Daraus definierte die FDA 3 Risiko-Kategorien, gestaffelt nach der Wahrscheinlichkeit, dass der Einsatz dieser Anwendungen eine Gefährdung für den Nutzer darstellen können: Anwendungen mit geringem (Class I), mittlerem (Class II) oder hohem (Class III) Risiko.
Anwendungen der Klasse 1 brauchen nicht, der Klasse 2 können, und der Klasse 3 müssen zugelassen werden.

Zulassungspflichtig sind…

…generell gesprochen alle Anwendungen, die Funktionen übernehmen, die sonst „klassische Medizinprodukte“ übernommen haben, bzw. an diese andocken und mit ihnen interagieren.

„Medizinprodukt plus Smartphone“

Ein mobiles Endgerät wird mit einem Medizinprodukt verbunden und dient dazu, dieses zu steuern, vom Medizinprodukt ermittelte Daten anzuzeigen, zu speichern, zu analysieren oder weiterzuleiten.

Beispiele:
* Eine Insulinpumpe, die mittels Smartphone durch den Patient angesteuert wird
* Daten eines EKG-Überwachungsmonitors werden per Funktechnologie an ein Smartphone gesendet und die EKG-Kurve kann dort „live“ mitverfolgt werden
* Digital archivierte Röntgenbilder können auf dem Smartphone angezeigt werden

In diesen Fällen wird also an ein bestehendes, eigenständiges System (Insulinpumpe, Monitor) ein mobiles Endgerät angeschlossen und dient als „verlängerter Arm“.

„Smartphone ersetzt klassisches Medizinprodukt“

Ein mobiles Endgerät wird selbst zu einem medizinischem Gerät indem eine Messsonde oder Sensoren angeschlossen werden und diese durch das Endgerät gesteuert werden.

Beispiele:

* Eine sich selbst aufpumpende Blutdruckmanchette, die an ein Smartphone angedockt wird
* EKG-Elektroden werden auf die Haut aufgetragen und übermitteln die Messergebnisse via Bluetooth an das Smartphone in der Hosentasche

In diesem Fall ist der Sensor (Manchette, Elektroden) alleine nicht funktionsfähig und bildet erst zusammen mit dem mobilen Endgerät eine Einheit. Gemeinsam übernehmen sie die Funktion, die sonst ein medizinisches Gerät übernommen hätte.

„App ersetzt medizinische Software“

Eine auf einem mobilen Endgerät installierte App wertet Patientendaten aus und stellt Diagnosen oder liefert Patienten-spezifische Therapievorschläge.

Beispiele:
* Eine App beurteilt das Hautkrebsrisiko einer Hautveränderung, die mit der Kamera des Smartphone aufgenommen wurde
* Abhängig von eingegebenen Blutzuckerwerten schlägt eine Smartphone App dem Diabetiker die zu spritzende Menge Insulin vor

Vorerst nicht zulassungspflichtig sind…

Anwendungen, die zusammenfassend gesagt zwar unter die Definition eines medical devices fallen, aber nach Einschätzung der FDA nur ein geringes Risiko haben, dem Nutzer Schaden zuzufügen. Daher sind sie aktuell, unter Widerruf, nicht zulassungspflichtig. Hier ein paar Beispiele:

Selbstmanagement für bestimmte Erkrankungen

Apps, die den Patienten bei einer bestehenden Erkrankung helfen, besser mit dieser umzugehen und Vorschläge für eine gesündere Lebensweise geben.

Beispiele:
* Eine Ernährungscoach-App für übergewichtige Patienten
* Fitnesstrainer für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Tools zum Messen und Sammeln von Messwerten („Self-tracking“)

Apps, die zum Beispiel dazu dienen, den Patienten bei der Dokumentation seines Krankheitsverlaufes zu unterstützen. Teilweise können diese Daten mit dem behandelnden Arzt im Sinne eines Disease Management Programm geteilt werden.

Beispiele:
* Dokumentation von Bludruck  und Puls bei Herz-Patienten
* Tracken der täglichen Stimmung bei Patienten mit depressiven Erkrankungen
* Tracken von Schmerzen und der eingenommen Menge Schmerzmedikamente bei Patienten mit chronischen Schmerzen

Arzt-Patienten-Kommunikation via Bild- und Video-Funktion

Der Einsatz von der im mobilen Endgerät eingebauten Kamera zur Darstellung von Sachverhalten, die sich nur schwer vom Patienten in worte fassen lassen.

Beispiele:
* Wunddokumentation oder sonstige Hautläsionen

Medizinische (Um-)Rechnungsprogramme

Hierbei handelt es sich um Apps, die bei der Berechnung von diversen Scores unterstützen

Beispiele:
* Ermittlung von Body Mass Index (BMI)
* Ermittlung von Glascow Coma Scale
* Ermittlung von APGAR Score

Mobiler Zugriff auf Personal Health Records (PHR) oder Electronic Health Records (EHR)

Alle Anwendungen, die mobilen Zugriff auf Inhalten von elektronischen Patientenakten gewähren.

(Auswahl, Liste nicht vollständig, mehr im Guidance.)

Nicht zulassungspflichtig sind…

…Apps, die allgemeine Gesundheitsinformationen liefern ohne diese in einen Kontext mit dem Nutzer zu stellen.

Beispiele:
* eBook-Version eines medizinischen Wörterbuchs
* Übersetzungstools für medizinische Fachbegriffe

…Apps, die zur Ausbildung von medizinischem Personal oder zu Schulungszwecken dienen

Beispiele:
* Interaktive 3D-Anatomiemodelle
* Frage- und Antwortkarten für Studenten
* Lehrvideos

…Apps, die zur Information oder zu Schulungszwecken von Patienten dienen

Beispiele:
* App, die Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken etc. in der Nähe anzeigen (Local-based services)
* Patientenportale, die Informationen zu bestimmten Erkrankungen liefern
* Preisvergleichs-App für unterschiedliche Medikamente mit dem selben Wirkstoff

(Auswahl, Liste nicht vollständig, mehr im Guidance.)

Innovationsbremse für Start-ups im Mobile Health Umfeld?

Zwar wurde die Leitlinie in der Fachwelt eher positiv aufgenommen, dennoch wurden auch kritische Stimmen laut. So könnte die Leitlinie innovative Start-ups mit an sich sinnvollen Anwendungen ausbremsen, da die Erfüllung der strengen Anforderungen sie vor eine große Herausforderung stellt. Haben vielleicht auch die Hersteller der „klassischen“ Medizinprodukte ihren Einfluss auf die FDA geltend gemacht um sich lästige Konkurrenz vom Halse zu halten? Raum für Verschwörungstheorien. Aber anders rum gefragt: soll die FDA bei solchen Start-ups „beide Augen zudrückten“ wenn gleichzeitig einer potentielle Gefahr für die Nutzer der Apps besteht?

Wenn Mobile Health ernst genommen und in den Regelbetrieb der Gesundheitsversorgung aufgenommen werden will, muss es sich auch den dort herrschenden Vorgaben stellen. Die wichtigsten sind Patientensicherheit und Wirtschaftlichkeit. Für ersteres ist die FDA zuständig.

Nur ein Bruchteil der aktuellen Apps ist betroffen

Nur ein verschwindend geringer Anteil der verfügbaren Apps fällt unter die Zulassungspflicht, zum Großteil Anwendungen, die von medizinischem Fachpersonal in Praxis und Klinik zum Einsatz kommen. Diese wurden übrigens auch schon vorher überwacht und bedurften der Zulassung. Dazu wurden Gesetzesvorlagen zur Bewertung „klassischer Medizintechnik“ herangezogen, die sich jedoch zunehmend als unpraktikabel für Mobile Health darstellte. Die neue Leitlinie schafft nun Klarheit.

Die unzähligen Apps, die sich speziell an Konsumenten richten und eher in Richtung Lifestyle, Fitness & Wellness gehen sind nicht betroffen.

Auch das Potpourri an Tools, die in der Quantified self Bewegung zum Einsatz kommen bleiben verschont.

(Verwandte Artikel auf Medizin-und-Neue-Medien.de: Diagnose von Hautkrebs mit dem Smartphone und  Der Traum von Professional Mobile Health – und die limitierenden Faktoren der Realität)

(Über-)Leben im gefährlichen Jahrzehnt

„In diesem Jahrzehnt werden weltweit mehr Informations- und Kommunikationstechnologien(IKT) im Gesundheitswesen installiert, als in dem gesamten Zeitraum zuvor“, postulierte der australische Professor für Medizininformatik E. Coiera in dem 2011 veröffentlichen Artikel The dangerous decade. Er führte weiter aus, dass „die Systeme größer und komplexer werden und sich zunehmend von einem regionalen zu einem nationalen, ja wenn nicht sogar supernationalen Rahmen entwickeln“.

Aber warum ist das den nun gefährlich? Coiera spricht von einem Paradoxon zwischen IKT und der Patientensicherheit: zwar kann die Technologie die Sicherheit erhöhen, gleichzeitig bringt sie aber auch neue Gefahrenquellen mit sich, zum Beispiel Technologie-induzierte Fehler oder soziotechnische Aspekte. Die Zahl der schwerwiegenden Schäden die durch den Einsatz von IKT im Gesundheitswesen auftreten sind relativ gering, aber wenn mehr IKT zum Einsatz kommt, werden als Konsequenz auch die Anzahl der Schäden steigen und deutlicher in den Vordergrund treten. Coiera vermutete, dass das Verhältnis zwischen IKT-Nutzung und auftretenden Fehlern nicht proportional ist, sondern Schäden eher überproportional auftreten könnten. Begründet hat er dies damit, dass bestehende IKT intensiver genutzt werden wird, neue komplexere Systeme implementiert werden und die Zahl der (Erst-)Nutzer steigen wird.

Statt ernsthaften Anstrengungen dieser Entwicklung entgegen zu wirken, beobachtete Coiera vielmehr Kostendruck und ehrgeizige Zeitpläne bei der Implementierung von IKT im Gesundheitswesen, die das auftreten von Fehlern weiter begünstigen könnten.

Schwarzmalerei? Panikmache? Die übliche Technikfeindlichkeit? Mitnichten. Coiera ist kein Verfechter von Health IT. Er ist vielmehr ein Insider und möchte weitere Bauchlandungen verhindern.
Ein vernetztes, IT-gestütztes Gesundheitswesen auf die Beine zu stellen ist die letzte große Herausforderung im e-Health Bereich. Wir laufen Gefahr, fieberhaft nach (rein) technischen Lösungen zu suchen. Werden diese dann übereilig implementiert und soziotechnische Aspekte nicht berücksichtigt, wird Coiera recht behalten.

Der Artikel ist nun knapp 2 Jahre alt, wir befinden uns am Ende des 3. Jahres dieser „gefährlichen Dekade“ und sind somit schon mitten drin. Ich habe mich gefragt, wie wohl Coiera die aktuelle Situation einschätzen, würde. Tut sich was oder alles beim Alten?.

Persönlich habe ich den Eindruck, dass der Vormarsch von IKT im Gesundheitswesen , vor allem in Europa, sich aktuell entschleunigt hat, wenn nicht sogar stockt. Grund dafür ist sicherlich nicht, dass sie alle The dangerous decade gelesen haben, sondern dass die Probleme zunehmend offensichtlich werden. Als schmerzliches Beispiel sei dass gescheiterte Connecting for Health Projekt aus Großbritannien genannt.

Auch die in Deutschland geplanten E-Health Aktivitäten liegen weit hinter ursprünglichen Planungen. Man überdenkt, fährt zurück und backt lieber erst mal kleine Brötchen. Und das ist auch gut so.

(Weiterführender Link: Trends in Health Information Technology Safety: From Technology-Induced Errors to Current  Approaches for Ensuring Technology Safety [PDF])